Liebe Besucher,

hier können Sie Märchen lesen, die  nur wenige kennen - aber
ich habe diese Märchen als Kind geliebt, weil sie mich in eine bessere und heilere Welt entführt haben, denn schließlich, um mich herum lag die Welt in Scherben, der 2. Weltkrieg
war gerade zu Ende, als ich geboren wurde.
Heute fiel mir beim Aufräumen zufällig dieses alte,
fast schon zerfledderte Buch, schon geklebt,
mit Klarsichtfolie eingebunden, die Schrift
verschnörkelt, in die Hände und ich dachte mir,
diese unbekannten und vergessenen Geschichten
aus Karl Bienensteins "Unter der Märchentanne"  
einmal ins Internet zu bringen.
Gewiss braucht es einige Zeit, ehe ich alle
Geschichten geschrieben habe; darum fange ich
am besten auch sofort an .....

 

PS: Die Veröffentlichung dieser Märchen kostet mich
viel Zeit und Mühe und ich habe sicherlich nichts
dagegen wenn Sie sich eine "Kopie" machen möchten;
aber für einen Eintrag ins Gästebuch sollte die Zeit dann
auch noch reichen.
Vielen Dank dafür  
*Cassiopaia*

 

 Der Nixenring 

Es waren einmal arme Taglöhnersleute, die hatten einen einzigen Sohn, dem sie den Namen Friedel gaben, weil ihnen einmal ein fremder Mann, den sie in ihrer armseligen Hütte beherbergt und
mit dem wenigen, was sie  hatten, freundlich bewirteten, sagte, dass jedes Kind, welches den Namen Friedel habe, sein Glück in der Welt machen müsste. Vorerst schien sich diese Weissagung aber noch nicht erfüllen zu wollen, denn Friedel hatte es grade nicht am besten.
Da nämlich seine Eltern sehr arm waren, so musste auch Friedel verdienen helfen, und weil er noch zu keiner anderen Arbeit zu gebrauchen war, so musste er die Schafe des reichen Müllers hüten, der in der Nähe eine große Mühle hatte.
Für diese Arbeit bekam Friedel die Kost und jedes Jahr einen neuen Rock. Bei dem Schafehüten gab es aber viel zu laufen, denn die Tiere wollten nicht beisammen bleiben. Das eine lief dorthin und das andere dahin, und wenn sie auf fremden Grund
und Boden kamen und dort weideten, dann liefen die Eigentümer desselben herbei und ließen ihren Zorn an Friedel aus, indem sie ihn an den Ohren und Haaren zausten, ihn einen faulen,
nichtsnutzigen Schlingel hießen, der auf die Schafe nicht achtgebe, sondern nur immer schliefe, was aber gar nicht wahr war. 

Friedel war daher sehr froh, dass ihn, als er größer und stärker geworden war, der Müller zu sich ins Haus nahm, um ihn die Müllerei zu lehren. Friedel war sehr anstellig und geschickt und was ihm einmal gesagt wurde, das merkte er sich gut
und machte seine Arbeit so wacker, dass ihm nach drei Jahren der Müller den Lehrbrief ausstellte und ihn als ordentlichen  Gesellen mit einem hübschen Lohn bei sich anstellte.

Als ihm der Lohn zum ersten Mal ausbezahlt wurde, suchte Friedel zuerst seine Eltern auf und gab ihnen die Hälfte desselben. Mit der anderen Hälfte aber eilte er in die Stadt und kaufte sich dort eine Geige, denn es war schon lange sein sehnlichster Wunsch gewesen, die Geige  spielen zu lernen.
Ein alter Musikant, der in dem nahen Dorfe wohnte, gab ihm Unterricht, und da Friedel auch hier großes Geschick zeigte, konnte er bald allerlei schöne Lieder und liebliche Weisen spielen und nach Ablauf eines Jahres erklärte der alte Musikant,
dass er Friedel nun nichts mehr lehren könne, denn dieser spiele nun schon besser als er selbst.

Friedel übte sich also allein weiter und wurde mit der Zeit ein großer Künstler, der selbst die schönsten Lieder und Weisen erfand und sie so schön zu spielen verstand, dass die Leute,
die an der Mühle vorübergingen und ihn gerade spielen hörten, oft lange Zeit stehen blieben und ihm zuhörten. Am liebsten spielte Friedel aber in der Nacht, wenn er in seinem Kämmerlein neben dem Mühlenwerke wachen musste, damit die Steine
nicht leer liefen, sondern immer Korn auf den denselben sei, das er nachzuschütten hatte.
Da öffnete er das Fenster, stellte seinen Sessel zu demselben, nahm sein Geige und spielte zu dem Rauschen der Räder und dem klappernden Takt des Mühlenwerkes, dass es wundersam hinausklang in die Stille der Nacht und selbst die Nachtigallen im
Gesange innehielten, um ihm zu lauschen.

Wie nun Friedel wieder einmal in einer mondhellen Nacht also spielte, da klang von draußen, wo das große Mühlenrad ging, ein schriller Jammerschrei und darauf folgte ein banges Wimmern.
Friedel ließ sofort seine Geige sinken und beugte sich zum Fenster hinaus, um zu sehen, was denn da wäre. Da aber das Mühlengebäude einen tiefen Schatten warf, konnte er nichts sehen und unterscheiden als etwas Weißes, das vom Mühlenrad
herum geschwungen wurde.
Er lief deshalb schnell aus seiner Kammer die Stiege hinunter zu dem Mühlenrade und da sah er an demselben eine Wassernixe hängen, die jämmerlich klagte.
Sie hatte das schöne Geigenspiel gehört und war heran geschwommen, um es besser zu hören.
Aus Unvorsichtigkeit war sie aber dem Rade zu nahe
gekommen, so dass dieses mit seinen Schaufeln das lang herabwallende Haar der Nixe erfasste hatte und das arme Wesen in gewaltigem Schwung immerfort herumwarf. Augenblicklich lief Friedel in das Mühlenwerk hinein und brachte das Rad zum Stillstehen und dann eilte er wieder hinaus,
watete so, wie er war, zu dem Rade hinzu, löste behutsam das Haar der Nixe von den Schaufeln los und ließ diese sanft  in das Wasser zurückgleiten.

Da Sprach die Nixe: "Habe Dank. lieber Müller, dass du mir gehalten und mich gerettet hast. Wenn du nicht gekommen wärst, hatte ich eines elenden Todes sterben müssen. Nicht nur, dass
mich das Rad zu Tode geschleift hätte, ich hätte es auch so nicht mehr lange aushalten können, denn wir Nixen sind für das Wasser geschaffen und länger als eine Viertelstunde können wir
außerhalb desselben nicht leben. Hast du einen Wunsch, so sage ihn und wenn ich ihn erfüllen kann, so will ich das mit Freuden tun."

Da antwortete Friedel: „Ich bin mit dem was ich habe, ganz zufrieden und habe deswegen auch keinen Wunsch. Willst du mir aber ein kleines Andenken geben, so will ich dies gerne annehmen
und gewiss auch immer in Ehren halten.
Und die Nixe erwiderte: „Da du so bescheiden bist, so will ich dir ein Andenken geben, das du vielleicht noch einmal gut brauchen kannst.

Mit diesen Worten tauchte sie in die Tiefe und nach einer Weile kam die hervor und überreicht Friedel einen silbernen Ring, in dem eine wasserhelle Perle befestigt war.

„Nimm diesen Ring“, sprach sie, „wenn du ihn am Finger trägst, so kannst du wie auf einer Straße selbst durch die tiefsten Tiefen des Meeres und aller Gewässer wandern und die Tiere und
Ungeheuer und Geister des Wassers können dir nichts anhaben.“
 

 

Friedel nahm den Ring mit vielem Dank an und sah der Nixe nach, wie sie nun, freundlich zurückwinkend, den Mühlenbach abwärts schwamm. Als sie verschwunden war, ging er wieder in sein Kammer zurück, nahm seine Geige zur Hand und spielte ein
neues schönes Lied, das schönste, das er bisher noch
erfunden hatte, und nannte es das Nixenlied.

Mit der Zeit wurde es Friedel in der Mühle aber doch  zu langweilig. Wenn er den Wanderburschen nachsah, die fröhlich singend auf der Landstraße vorbei und in die weite Welt zogen, dann wurde ihm oft zumute, als sollte er alles liegen und stehen
lassen, ihnen nachlaufen und sie bitten „Nehmt mich mit!“

Und als er endlich das Stille sitzen an einem Orte wirklich nicht mehr aushalten konnte, da trat er vor den Müller und sagte: “Herr Meister, ich bin nun groß und stark, habe mein Handwerk vom Grunde aus gelernt und möchte nun einmal sehen, wie’s in der
weiten Welt zugeht. Ich bitte Euch deshalb, lasst mich ziehen.“

Der Müller antwortete: „Deine Bitte sei dir gewährt. Ich lasse dich zwar ungern ziehen, denn du warst mit allezeit ein wackerer und verlässlicher Gehilfe, aber ich weiß selbst, ein junger Mensch soll hinaus in die Welt und kennen lernen, wie man’s da und dort
treibt und deshalb will ich dich auch nicht aufhalten.
Komm mit mir, dass ich dir deinen Lohn auszahle und dann magst du in Gottes Namen ziehen.“

Da schnürte Friedel sein Bündel, der Müller zahlte ihm seinen Lohn aus und nachdem Friedel ihm noch für alles Gute von Herzen gedankt hatte, ging er zu seinen  Eltern nach Hause, um sich von diesen zu verabschieden. Diese waren sehr bekümmert,
als sie hörten, dass ihr einziger Sohn in die ferne fremde Welt ziehen wolle, sahen aber ebenfalls ganz gut ein, dass es für Friedel nur von Nutzen sein könne, wenn er allerlei sähe, wenn er anderes kennen lerne als die Heimat, und deshalb unterdrückten sie ihre Tränen und ließen ihren Sohn, nachdem er noch
einmal unter dem Dache der elterliche Hütte geschlafen, am nächsten Morgen mit vielen Segenswünschen ziehen.

Der Morgen war schön. Ein frischer Wind strich durch die Bäume, auf dem Grase blitzte der Tau und in der blauen, sonnigen Luft sangen die Lerchen. Da trocknete sich Friedel die Tränen, die er beim Abschied von den Eltern vergossen hatte, von den Wangen, nahm sein Fiedel zur Hand und spielte sich
im Wandern ein lustiges Lied, das hell in das Land hinein klang. So zog  er dahin, landein landaus, an einsamen Gehöften vorüber, durch anmutige Dörfer und volkreiche Städte,  über wallende Ströme und durch rauschende Wälder, durch fruchtbare Ebenen
und über steinige Gebirge, und immer war er lustig und guter Dinge.

Mit seinem Geigenspiel verdiente er manchen blanken Taler, und wenn er abends in die Herberge kam, so gab man ihm gerne Speise und Trank und ein gutes Nachtlager, wenn er die
übrigen Gäste mit seiner Kunst erheiterte.
Er braucht keinen Pfennig und konnte von Zeit zu Zeit sogar seinen alten Eltern noch ein kleines Sümmchen nach Hause schicken.

Endlich kam Friedel an das Meer. An demselben lag eine große, große Stadt mit vielen Türmen und schönen Palästen, deren Dächer und Kuppeln in der Sonne glänzten wie eitel Gold.
Schon von weitem sah Friedel, dass von den Türmen schwarze Fahnen hingen, und als er näher kam, da war auch die hohe
Mauer, welche sich rings um die Stadt zog, ganz mit schwarzen Tüchern behangen, die Schiffe, welche im Hafen lagen, hatten schwarze Segel aufgezogen, von den Spitzen der Mastbäume wehten schwarze Wimpel, und als er durch das Tor in die Stadt eintrat, da waren alle Menschen, die durch Straßen und
Gassen wandelten, in schwarze Trauerkleider gekleidet, blickten traurig vor sich hin, oder hatten vom Weinen gerötete Augen.

Friedel konnte sich das alles nicht erklären und frage den Nächsten, der ihm in den Weg kam, was denn das alles zu bedeuten hätte, welches Unglück denn geschehen sei, dass alle so traurig wären.
Aber der Mann gab ihm keine Antwort, sondern seufzte nur tief und ging schweigend seines Weges.
 

Da fragte Friedel andere, aber auch sie gaben ihm keine Antwort, sondern seufzten nur und einige wiesen mit dem Finger nach dem königlichen Palast, der ganz in  schwarze Flore gehüllt war, und nach wiesen stumm nach dem Meere.

Friedel konnte aus all dem nicht klug werden, und weil er Hunger und Durst hatte und zudem die Nacht eben anbrach, suchte er eine Herberge auf und ließ sich sein Abendbrot und dazu eine Flasche Wein geben. Schweigend brachte der Wirt das Verlangte und ließ sich Friedel gegenüber auf einem Sessel nieder und sah stumm zu, wie dieser mit gutem Appetit sein Abendmahl verzehrte.
Als Friedel den letzten Bissen gegessen und sich an dem Wein gelabt hatte, fing er mit dem Wirt ein Gespräch an und fragte ihn, was denn all diese schwarzen Fahnen und Flore und Tücher und Kleider zu bedeuten hätten. Aber der Wirt schüttelte den
Kopf und sagte nur: „Ja, Herr, das ist eine traurige Geschichte, aber ich kann Sie Euch leider nicht erzählen.“ Weiter war nichts aus ihm herauszubringen und Friedel verdross das so sehr, dass er nicht länger bei dem Wirt sitzen bleiben wollte, sondern
verlangte, dieser sollen ihm die Kammer zeigen, wo er sich zu Bette legen könne.

Die Kammer war recht hübsch eingerichtet und als der Wirt Friedel verlassen hatte, machte sich der daran, ein bisschen Umschau zu halten. Da sah er ein Bild in einem goldenen Rahmen. Von dem Gemälde  war aber nicht ein Strich zu sehen, weil darüber ein schwarzes Tuch geheftet und an einer Stelle
mit einem Siegel an dem Rahmen befestigt war.
Das machte nun Friedel sehr neugierig und er versuchte auf alle Art das schwarze Tuch loszulösen.
Da ihm  dies nicht gelang, wurde er zornig und unbekümmert darum, was etwa der Wirt dazu sagen würde, riss er das Tuch ganz einfach herunter.
Wie war er aber erstaunt, als er nun vor sich das Bild eines Mädchens sah, so schön, wie er noch keines gesehen hat. Es hatte ährenblonde Locken, die reichlich um das zarte Gesicht rollten, ein schlankes Näschen, einen Mund so rot wie reife
Erdbeeren und die Augen leuchteten wie ein reiner Sommertag. Lange Zeit stand Friedel vor dem Bild und konnte sich nicht satt sehen, und als sich  doch endlich zu Bette legte und einschlief, da träumte ihm sogar von dem Mädchen. Es ihm, als stiege es aus dem Bilde hernieder und nähere sich seinem Bette.
Hier blieb es stehen und sah ihm traurig in die Augen, als wolle es ihn um  etwas bitten. Eben wollte Friedel den Mund zur Frage auftun, da verschwand das Bild und er erwachte. Es war schon heller Tag und eben kam der Wirt, um nach seinem Gast zu sehen. Kaum aber hatte er gesehen, dass Friedel das
schwarze Tuch von dem Bilde heruntergerissen hatte, da begann er laut  zu jammern und  zu klagen.

Das war nun Friedel wieder unverständlich und er sagte: „Ihr scheint nicht recht bei Sinnen zu sein. Erst verhängt ihr dieses wunderschöne Bild mit dem garstigen schwarzen Tuche und nun ich dasselbe  herab gerissen habe, jammert Ihr, als hätte man
Euch das Haus über dem Kopf angezündet. Sagt, was das Tuch kostet, ich will es  Euch augenblicklich bezahlen.“

Da sprach der Wirt: „O Her, Ihr wisst nicht, was Ihr getan habt, doch werdet Ihr bitteren Lohn für Eure Tat ernten. Wenn Ihr mir versprecht, dass Ihr mich nicht verratet, so will ich Euch erklären, und Ihr werdet dabei erfahren, worum Ihr mich
gestern gefragt habt“

Friedel gab das Versprechen und der Wirt erzählte:
„Unser Land war früher eines der glücklichsten der Erde. Es ist fruchtbar, wir lebten in Frieden mit allen Nachbarn und unser König ist so gut und weise wie kein zweiter. Seine größte Freude war seine einzige Tochter, denn sie war so schön, freundlich
und sittsam, dass sie nicht nur der Liebling des Hofes, sondern des ganzen Landes war, und wohin sie kam, da strömten die Leute herbei, um sie zu sehen und zu begrüßen und einen freundlichen Blick aus ihren Augen zu erhaschen. Ja, man hatte sie so lieb, dass sich jeder Hausvater ihr Bild malen ließ,
und dieses daheim in der guten Stube aufhängte. Wir Ihr seht, habe auch ich mir ein solches Bild malen lassen, da geschah es, dass an dem Tage, da sie achtzehn Jahre alt war, die Königstochter mit zwei ihrer Gespielinnen am Ufer des Meeres
spazieren ging und von dem Wassermann gesehen wurde. Weil sie ihm so gut gefiel, schwamm er herzu und bot ihr Perlen, Korallen und Edelsteine, wenn sie seine Frau werden wolle.
Die Königstochter wollte davon nichts wissen und lachte ihn nur aus, denn er sah mit seinen glotzigen Fischaugen, dem breiten
Mund und  der stacheligen Flosse  über dem kahlen
Kopf und den Rücken hinunter sehr spaßig aus. 
Darüber  aber wurde der Wassermann so zornig, dass er eine große Welle ans Land schickte, welche die Königstochter erfasste und dem Wassermann in die Arme warf, der lachend mit seiner schönen Beute in die Tiefe fuhr.
Dort sitzt sie nun neben dem Schlosse des Wassermanns in einem schwarzen Korallenturm gefangen, und damit sie ihm nicht vor Langeweile und Gram stürbe, holt der Wassermann jede Woche ein anders Mädchen aus  unserer Stadt.

Die müssen mit der Königstochter spielen. Nach einer Woche bringt er sie wieder zurück, aber die armen Mädchen müssen Tage nach ihrer Ankunft auf der Erde sterben.
Und das soll so lange dauern, bis die Königstochter einwilligt, des Wassermanns Frau zu werden.
Da hat nun der König  demjenigen, welcher seine geliebte Tochter befreie, die Hand derselben und die Krone seines Reiches versprochen, und viele Ritter sind schon ausgezogen und sind in das Meer hinab gestiegen, um zu dem Korallenturm zu gelangen,
aber keiner ist noch zurückgekehrt.
Trotzdem kamen immer wieder neue Ritter und selbst Königssöhne aus anderen Ländern, und wenn sie das Bild der Königstochter sahen, so waren sie davon so entzückt, dass sie sich trotz alles Abratens doch wieder aufmachten, sie zu befreien.
Aber auch von denen hat kein Mensch mehr etwas vernommen. Damit nun nicht noch mehr ihr Leben einbüßen sollten, hat der König den Befehl gegeben, alle Bilder der Prinzessin  sollten mit schwarzem Tuch verhängt werden und kein Mensch solle mehr von
ihr sprechen. Wer den Befehl nicht befolge, solle mit dem Tode bestraft werden. Stumm solle so lange um die Königstochter getrauert werden, bis sie vielleicht doch noch wieder käme.
Damit aber der  König weiß, ob sein Befehl auch von allen erfüllt werde, schickt er jeden Morgen Wächter von Haus zu Haus, welche nachsehen müssen, ob niemand das schwarze Tuch von dem Bilde der Königstochter genommen habe.
Augenblicklich werden die Wächter hier sein und sie werden Euch vor den König schleppen.
Da Ihr landfremd seid und von dem Befehl nichts wusstet, ist es vielleicht möglich, dass Euch der König, wenn Ihr ihn demütig auf den Knien bittet, das Leben schenkt, doch bestimmt will ich das nicht sagen.“
Der Wirt hatte kaum ausgesprochen, als auch schon die  Wächter ins Zimmer traten.
Als sie das enthüllte Bild sahen, fragten sie, wer so gegen den Befehl des Königs verstoßen hätte. 
Unerschrocken trat Friedel vor und sagte, dass er es getan hätte, sie sollten ihn nur vor den König führen, er fürchte sich nicht.
Da nahmen die Wächter Friedel in ihre Mitte und führten ihn durch die schwarz  beflaggten Gassen zum schwarz verhängten Königsschloss und vor den König.

Dieser saß in einem hohen Saale, dessen Decke von Ebenholz war und von Säulen aus schwarzem Marmor getragen wurde. Die Wände waren mit schwarzem Samt ausgeschlagen, der selbst die Fenster verhüllte, so dass kein Strahl der Sonne in den Saal dringen konnte. Dieser war nur erleuchtet vom Licht schwarzer Wachskerzen, die auf schwarzen Leuchtern standen. Der Thron, auf dem der König saß, war aus einem kostbaren, schwarzen Stein gefertigt und mit schwarzen Diamanten besetzt.
Und schwarz waren auch des Königs Kleider von dem schweren Mantel bis zu den goldbestickten Pantoffeln.
Selbst die Krone und das mit Edelsteinen geschmückte Zepter waren noch mit schwarzem Flor umhüllt. Die tiefen Falten auf dem Antlitz des Königs zeigten, wie sehr er sich um den Verlust seiner Tochter grämte und es klang auch mehr traurig als
zornig, als er nun zu Friedel sprach:
„Wer bist du, Mann, dass du dich unterstandest, gegen meinen Befehl das Bild meiner unvergesslichen, unglücklichen Tochter zu enthüllen?“
Da verneigte sich Friedel mit geziemendem Anstand und Ehrfurcht vor dem König und erwiderte:
„Verzeiht, Herr König, dass ich gegen Euren Befehl
gehandelt habe, doch ich wusste von demselben nichts, da ich ein Fremder bin und aus einem fernen, fernen Land komme. Wie oft ich auch fragte, kein Mensch sagte mit, das die schwarzen Fahnen und Tücher und die schwarzen Kleider zu bedeuten
hätten und als ich nun auch in meiner Herberge das schwarz verhängte Bild sah, da konnte ich es vor Neugierde nicht mehr aushalten und ich riss das schwarze Tuch herunter. Ich weiß, dass ich schwer gefehlt habe, doch hoffe ich, dass mein Fehler
sowohl für Euch, Herr König, als auch für mich zum Besten ausschlagen werde, denn wenn es einen Menschen auf Erden gibt, der Eure Tochter befreien kann, so bin ich es.
Ich bitte  Euch also, Herr König, schenkt mir das Leben und ich will Eure Tochter befreien. Komme ich dabei um, so bin ich ja genug bestraft. Gelingt es mir aber, so will ich recht gerne
Euer Eidam werden und, wenn Ihr mich das Regieren lehren wollt, so werde ich nicht der schlechteste Schüler sein und gewiss ein guter König werden.“

Dem König gefiel der hübsche, mutige Bursche außerordentlich, aber er war doch im Zweifel, ob Friedel nicht am Ende das alles nur gesagt habe, um ihm zu  entwischen und er sprach deshalb:
„ Du meinst wohl, dass du mir auf diese Art  entrinnen kannst?“

Doch Friedel erwiderte: „Mit nichten, Herr König!
Wenn Ihr meinen Worten nicht traut, so gebt mir Eure Wächter mit, und ich will vor ihren Augen in das Meer hinabsteigen. Bis morgen um diese Zeit bin ich wieder da und hoffentlich mit Eurer
Tochter.“

Da war es der König zufrieden und befahl den Wächtern, Friedel an Meer zu bringen.
Diese nahmen ihn denn wieder in ihre Mitte und so schritten sie dem Meere zu. Es war bereits Nacht, der Mond schien und an dem ganzen Meeresufer war kein Mensch zu sehen. Da sagte Friedel zu den Wächtern: „So jetzt lasst mich einmal ein Stücklein auf meiner Geige spielen.“

Damit setzt dich Friedel auf einen großen Stein, der da am Ufer lag, die beiden Wächter setzten sich neben ihn, und er begann sein schönstes Lied  zu spielen, das Nixenlied. Friedel hatte noch gar nicht lange gespielt, da tauchte bald da, bald dort
ein Kopf über den Spiegel des Meeres auf.
Es waren die Nixen, welche neugierig herangeschwommen kamen, um dem Liede zu lauschen.
Und als nun eine Nixe besonders nahe heran kam, da hielt Friedel im Spiele ein und sagte:
„Du, kannst du mir sagen, wo der nächste Weg zum Schloss des Wassermanns führt?“
Die Nixe antwortete: „Wenn du den nächsten Weg zum Wassermann gehen willst, so gehe am Ufer gegen Osten so lange weiter, bis du zu einem großen, viereckigen, grünen Stein kommst. Dort musst du in das Meer hinabsteigen und auf dem Grunde desselben immerfort gegen Mitternacht wandern.
Aber der Weg ist sehr gefährlich und ich glaube kaum, dass du zu dem Schlosse kommst.“

Da sprach Friedel: „Habe Dank für deine Mitteilung. Was das andere ist, das lass nur ganz meine Sorge sein.“

Darauf ging er in Begleitung der Wächter am Ufer ostwärts, bis er den grünen, viereckigen Quaderstein fand, kletterte auf denselben und sprang mit seiner Geige lustig in das Meer hinein, dass das Wasser hoch aufspritzte und die beiden Wächter ganz nass machte, welche nun schimpfend und brummend abzogen.

Der Grund des Meeres, auf dem Friedel nach seinem Sprunge ankam, war aus feinem Sande und ging steil in die Tiefe. Er wanderte auf demselben abwärts, wie auf einer festen Straße, die einen Berg hinabführt. Von allen Seiten kamen Fische herbei und beschnupperten ihn, er aber machte sich nicht daraus.
Nur wenn so ein kalter Geselle gar zu nahe an sein Gesicht herankam, gab er ihm einen Klaps auf das breite Maul, dass er erschreckt davon schoss.
Das machte Friedel viel Spaß und er dachte:
‚Wenn das immer so geht, ist es eigentlich ganz lustig’,
doch  es wurde bald anders. Je tiefer Friedel  hinunter kam, desto finsterer wurde es, und endlich wurde es so schwarz um  ihn, dass er nicht imstande gewesen wäre, das geringste zu sehen, hätte nicht die Perle in seinem Ringe, den ihm die Nixe geschenkt hatte, zu leuchte begonnen und die Finsternis soweit
erhellte, dass er wenigstens den Weg und die nächsten Gegenstände an demselben sehen konnte.
Der Weg ging nun wohl eben fort, aber dafür lagen große Felsen da und zwischen ihnen staken die Trümmer untergegangener Schiffe. Im blassen Licht der Perle sah Friedel die weißen Gerippe und Schädel ertrunkener Menschen liegen und das war
ganz unheimlich. Zwischen den Gerippen aber krochen
große Krebse umher und die packten Friedel mit ihren Scheren an den Beinen und wollten ihn nicht fortgehen lassen. Friedel aber stieß so mit den Beinen um sich, dass sie  ihn doch wieder loslassen mussten, und als er zu dem nächsten Schiffe kam,
kletterte auf dasselbe hinauf und holte aus dem Innern eine zweischneidiges Schwert.
Wenn nun so ein Scherenpeter gar zu lästig wurde, so hieb er ihm einfach die Schere ab.
Das half und Friedel konnte nun ohne weiteren Aufenthalt weiterwandern, bis er zu dem großen Korallenwalde kam. In diesem hauste eine scheußliche Gesellschaft. Seeschlangen, große und kleine, wanden sich auf dem Boden hin oder ließen ihre
Schuppenleiber von den Korallenästen herabhängen und rissen ihre Rachen, die von scharfen Zähnen starrten, drohend gegen Friedel auf, Seedrachen schossen von oben auf ihn herab, große Fische mit stacheligen Flossen und mit Sägen und Schwertern
vorne am Maule kamen heran, und wenn sie auch Friedel nichts tun konnten, weil er den Nixenring besaß, so versuchten sie doch auf alle mögliche Weise ihn am Weitergehen zu hindern.
Das wurde Friedel nun doch zu bunt und er rief:
„Na wartet, ihr Kerle, ich werde euch lehren, einen friedlichen Wanderer seines Weges ziehen zu lassen.“
Und er begann mit seinem Schwerte so auf die Ungetüme los zuhauen, dass sie endlich das Weite suchten. So kam Friedel auch  aus dem Korallenwalde hinaus und nun sah er das Schloss des Wassermanns vor sich. Es war aus grünem, leuchtendem Gestein erbaut und um dasselbe herum zog sich eine hohe
Mauer aus blauem, dickem Glase.
In der Mauer war nu ein einziges Tor und vor demselben hielten zwei riesige Haifische wache, welche Friedel, als er herankam, den furchtbaren Rachen entgegenstreckten und sich so vor das Tor legten, dass er nicht durch konnte.
Aber Friedel ließ  sich nicht schrecken, sondern ging auf sie zu und schlug mit dem Schwerte auf die los.
Sie hatten aber eine so starke Haut, dass das Schwert abprallte.
„Halt,
sagte Friedel, „so geht es nicht. Nun will ich es mit der Höflichkeit versuchen.“
Er stellte sich vor den beiden Ungetümen auf und sprach: “Ihr habt gewiss in eurem Leben noch keine ordentliche Musik gehört. Ich will euch ein Stückchen vorspielen.“ Und er setzte seine Geige an und begann ein Schlummerlied zu spielen. Das gefiel den beiden Haifischen ganz außerordentlich, sie wedelten mit
den Schwänzen wie freundliche Hündchen, klappten die Rachen zu, und da sie von dem beständigen Wachen ohnehin müde waren, fielen ihnen endlich die Augen zu. Als Friedel sah, dass sie fest eingeschlafen waren, sprang er schnell über sie hinweg und kam nun in den Hof und zum Tor des Palastes. Hier lag an einer starken Kette ein gewaltiger Krake, dem acht lange Arme aus dem Kopfe herauswuchsen, vier rechts und vier links, welche er sogleich nach Friedel ausstreckte, um ihn festzuhalten. Doch Friedel war schlau und meinte: „Oho, Herr Vetter, so gut sind
wir gerade nicht, dass ich gleich von dir umarmen lasse. Erst musst du mich erwischen!“

Damit begann er von einer Seite zur anderen zu springen, bald nach links, bald nach rechts, und wenn ihn der Krake mit einem Arm auf dieser Seite fassen wollte, so hieb er ihm den schnell ab und so verstümmelte er das ganze Ungeheuer so, dass es
sich zu einem Klumpen zusammenrollte und Friedel durch das Tor in den Palast ließ. Da waren nun Säle, einer an dem anderen und jeder schöner als der vorherige, und der schönste war der, in dem der Wassermann auf dem Throne saß. Da waren die
Wände ganz von grünem Kristall und roten und blauen Edelsteinen, mit Gold und Silber geschmückt, und an der Decke hing ein großer Diamant, der ein Licht gab wie der Vollmond.

Als der Wassermann Friedels ansichtig wurde, wurde er ganz gelb vor Zorn, er rollte seine großen Glotzaugen, der Flossenkamm auf seinem Kopfe sträubte sich und mit seiner quakenden Stimme fuhr er Friedel an: “Wer bist du, dass du dich unterstehst in mein Schloss zu dringen. Ich werde dich in kleine Stücke zerhauen und den Fischen zur Speise vorwerfen lassen.“

Doch Friedel entgegnete keck: „Wer ich bin, das wirst du gleich erfahren, du krötenköpfiger Mädchendieb. Augenblicklich gib mir die Königstochter, die du gestohlen hast, oder ich salbe
dir deinen kahlen Schädel mit meinem zweischneidigen
Eisen, dass du an mich denken sollst.“
Da sprang der Wassermann wütend auf und auf Friedel los. Dieser  führte einen Hieb mit dem Schwerte nach ihm, aber das Schwert glitt an der glatten schlüpfrigen Haut ab. Friedel warf deshalb schnell das Schwert fort und nun packten sich die
beiden an und begannen miteinander zu ringen.
Es war kein leichter Kampf, aber schließlich gelang es Friedel doch, den Wassermann zu Boden zu werden. Schnell zog er sein Sacktuch hervor, riss es mit den Zähnen entzwei und band damit dem Wassermann Hände und Füße.

Da lag er nun und wand und krümmte sich vor Zorn, konnte sich aber nicht helfen. Lachend sprach Friedel: „So, Bürschlein, jetzt sage mir, wo der Schlüssel zum Korallenturm ist.“

Der Wassermann wollte es aber nicht sagen.
„Nun“, meinte Friedel, „ist auch recht. So werde ich dich ganz einfach ans Land hinauftragen und dort an einen Baum hängen, bis du austrocknest wie ein  Stockfisch.“ Und er packte den Wassermann, lud ihn auf den Rücken und schickte sich zum Gehen an.
Der Wassermann wusste recht gut, dass er außer Wasser nicht leben könnte und elendiglich verschmachten müsste, wenn er ans Land gebracht würde, er bekam deshalb eine große Angst und bat:
„Lieber Mann, lass mich hier, ich will dir gerne sagen,
wo der Schlüssel ist.“ Da ließ ihn Friedel wieder zur Erde gleiten und der Wassermann sagte ihm, wo der Schüssel fände.

Friedel holte denselben, ging zum Turm und fand die
Königstochter samt ihrer Gespielin. Friedel verneigte sich artig und sprach: „ Seid getrost, edle Prinzessin, die Stunde der Befreiung ist gekommen. Ich habe den Wassermann gefesselt und will Euch zu Eurem Vater, dem Herrn König, zurückbringen.“

Da tat die Königstochter einen Jubelschrei, fiel Friedel um den Hals und küsste ihn, und der nahm sie an die Hand  und führte sie und ihre Gespielin zurück in den Saal, wo der Wassermann lag und sprach zu diesem: „So, jetzt will ich dich von deinen
Fesseln befreien. Aber du musst vorher die Prinzessin um Verzeihung bitten, und musst schwören, dass du weder ihr noch sonst einem Menschen des ganzen Landes jemals noch ein Leid tust. Hältst du  deinen Schwur nicht, dann komme  ich und dann magst du zusehen, wies dir geht; dass mit mir nicht gut
Kirschen essen ist, das hast du gesehen.“

Der Wassermann hatte vor Friedel eine gewaltige Angst und deshalb bat er die Prinzessin demütig um Verzeihung und versprach alles, was Friedel von ihm  verlangt hatte. Da schnitt dieser die Fesseln des Wassermanns  entzwei und der, der den gefährliche Gast sobald als möglich aus seinem Wasserreiche
draußen zu sehen wünschte, rief seinen Hofwagen herbei, der mit zwei großen Fischen bespannt war, Friedel hob zuerst die  Prinzessin hinein, dann deren Gespielin, sprang selbst auf den Bock und fort ging es mit  Blitzesschnelle durch das Meer bis zu dem grünen Stein.

Da stieg Friedel mit den zwei Mädchen ans Land, und wie sie Arm in Arm durch die Stadt dem Königsschlosse zuzogen, da liefen die Leute herbei, uns als sie die Königstochter erkannten, da entstand ein Jubel, der gar kein Ende nehmen wollte.
Der König war ganz außer sich vor Freude.
Er umarmte und küsste seine Tochter immer und immer wieder, und dann umarmte und küsste er auch Friedel und nannte ihn seinen lieben Sohn.

 

In der Stadt aber mussten alle schwarzen Fahnen und Tücher durch rote ersetzt werden, und nach drei Tagen fand mit aller Pracht die Hochzeit Friedels mit der Königstochter statt. Dieser hatte dazu auch seine Eltern geladen.
Sie kamen und wurden mit großen Ehren empfangen und  erhielten im Schloss eine schöne Wohnung, wo sie bis zu ihrem Ende leben sollten.
Und als der König Friedel das Regieren gelehrt hatte, übergab er ihm das Zepter des Reiches, und Friedel regierte bis in sein hohes Alter weise und gerecht und die Leute hatten ihn so lieb wie den alten König.
 

 

 

 

Die Glocke auf dem Berge

Vor vielen hundert Jahren war es einmal geschehen, dass in einem großen Reichen das Mitleid ausgestorben war. Weder bei reich noch arm, weder bei jung  noch alt war auch nur ein Körnchen davon zu finden; jeder dachte nur an sich selbst und tat, als wäre nur er und sonst niemand auf der Welt.
Damals geschahen ganz seltsame und abscheuliche Dinge. Kein Hungriger ward gespeist, kein Durstiger getränkt und wäre auch Überfluss in reichster Fülle vorhanden gewesen. Es hatte stattgefunden, dass Mütter ihre Säuglinge verhungern ließen und Kinder ihrem greisen, hinfälligen Vater das Stück Brot,
dass er auf der Straße gefunden hatte, aus den Händen rissen und verschlangen.
An jedem Wintermorgen  lagen ganze Reihen erfrorener Bettler, denen es an der nötigsten Kleidung fehlte, auf den Straßen, denn kein Haus, keine Hütte, nicht einmal ein Stall öffnete ihnen
gastlich die Pforten zur Nachtherberge. 
Die Kranken aber lagen einsam und verlassen in ihren Kammern, kein Mensch kümmerte sich um sie, auch nicht um die Reichen unter ihnen, man ließ sie in ihren Schmerzen dahinsterben. Die Gesunden und Starken aber suchten sich gegenseitig in allem und
jedem zu übervorteilen, und keiner machte sich ein Gewissen daraus, wenn er seinen Nächsten mit Weib und Kind ins Unglück gebracht hatte.
Der Überwundene erntete nur Spott und Hohn und musste verzweifelt seinem Ende entgegensehen.
Da geschah es, dass der König des Reiches, obwohl er ein noch junger Mann war, schwer erkrankte.
Der Leibarzt, der sich für seine Mühe mit großen Summen bezahlen ließ, wandte alle möglichen Mittel an, aber sie halfen nichts. Auch die übrigen Ärzte, welche in das Königsschloss befohlen wurden, versuchten dieses und jenes, ließen sich dafür
gleichfalls überreichlich bezahlen, konnten aber der Krankheit ebenso wenig Herr werden, wie der Leibarzt.
Da ließ der König endlich den weisen Mann, der einsam in einer Felsenschlucht an der Grenze des Reiches wohnte, herbeiholen, damit er ein Mittel gegen die Krankheit ersinne. Der Weise kam, ließ sich vom König dessen Leiden genau schildern und
dann sprach er: 
"Deine Krankheit, o König, kann weder durch die Kräfte, welche in den Steinen und Erden wohnen, noch durch jene, welche in den Säften der Pflanzen brauen, geheilt werden. Gegen sie hilft nicht
Schlangenpulver noch Krötenblut, noch überhaupt ein anderes Heilmittel, so aus lebenden oder toten Geschöpfen gewonnen wird; denn deine Krankheit sitzt zutiefst im Herzen, wohin keine Arznei dringt und gegen sie gibt es nur ein Mittel:
den Klang der Glocke  auf dem Berge. Auf dem höchsten Berge deines Reiches, dessen Gipfel noch keiner erstiegen hat, hängt sie in einem Turme von Kristall, und dreimal an einem Sonnabend, wenn die Sonne aufgeht, wenn sie am höchsten steht und
wenn sie untergeht, muss sie geläutet werden.
Aber der Weg zu ihr ist weit und voll Gefahren.
Wer ihn gehen will, muss zuerst durch die große Wüste, in  der weder Baum noch Strauch Schatten gibt, weder Bach noch Brunnen Labung bietet, wo im Sande giftige Schlangen lauern und hungernde Löwen brüllen.
Dann führt er durch den wildesten Wald, den die Erde trägt. Kein Sonnenstrahl taucht auf seinen Grund und im Dunkel schleicht unheimliches Getier, nach des Wanderers Blut lechzend.

Und wäre dieser auch den Gefahren des Waldes entgangen, schwieriger noch ist der sturmumtoste Weg vom Walde durch die ungeheuren Stein- und Eiswüsten empor zum Gipfel, von dem im Tageslicht zermalmende Lawinen donnern und nachts
Schneestürme zu Tale fegen.
Versuche, o König, ob du in deinem Reiche einen Mann findest, der diesen Weg wagt. Das ist mein Rat." 
 

Mit diesen Worten verbeugte sich der Weise und
kehrte dann wieder in seine Schlucht zurück.
Sogleich ließ der König durch Läufer in allen Teilen seines Reiches einen großen Preis für jenen ankünden, der das Wagnis unternähme, zur Glocke auf dem Berge hinaufzusteigen und sie zu läuten.
Es meldeten sich auch sofort Männer: als sie aber erfuhren, mit welchen Gefahren der Weg verbunden sei, da zogen sie sich wieder zurück und meinten, ihr Leben sei ihnen doch lieber als ein Sack voller Geld.
Als der König erfuhr, dass in seinem ganzen großen Reiche kein Mensch sei, der für ihn den schweren Weg machen wollte, da weinte und wehklagte er, dass es einen Stein hätte erbarmen können.
Aber seine Diener zuckten nur die Achseln, gingen hinaus und ließen sich nicht mehr blicken.
Da lag nun der König mutterseelenallein auf seinem
Krankenlager und ächzte und stöhnte, wimmerte und wehklagte, und zuweilen, wenn die Schmerzen, die noch immer zunahmen, gar zu heftig wurden, dann schrie er auf mit gellender Stimme, dass es grauenvoll durch die Hallen und Gänge des Schlosses
hallte. Selbst auf der Straße, die am Königsschloss vorüberführte, konnte man oft das grässliche Jammern des Königs hören. Da blieben die Leute wohl einen Augenblick stehen, dann aber machten sie eine gleichgültige oder gar spöttische Miene, meinten, der König habe es sein Leben immer gut
gehabt, dass es eigentlich ganz gerecht sei, wenn er jetzt auch einmal den Schmerz kennen lernen müsse, und gingen weiter.
Als eines Tages der König eben wieder so entsetzlich jammerte und nach dem Tode rief, der ihn von seinen Schmerzen erlösen sollte, ging ein Mädchen an dem Königschlosse vorüber.
Das stammte aus einem fernen Lande und war vor
ein paar Tagen hierher in die Stadt gekommen, um sich als Blumenverkäuferin ihr Brot zu verdienen.
Als es nun das furchtbare Jammern des Königs hörte, blieb es stehen und sah mit weitaufgerissenen Augen zu den Fenstern des Schlosses auf, denn es konnte sich nicht erklären, was denn da oben geschehe.
Deshalb ging es auf den Mann zu, der vor dem Schlosstor Wache hielt und fragte ihn, wer denn da oben so schauerlich schreie und jammere.
Der Wächter sagte: "Du musst wohl eine Fremde sein, dass du das nicht weißt. Unser kranker König ist's."
Da fragte das Mädchen weiter: "Ja, warum lässt er sich denn keinen Arzt kommen, dass er ihm die Schmerzen stille?" 

Nun erzählte der Wächter dem Mädchen, dass die Krankheit des Königs kein Arzt heilen könne, denn sie sitze zutiefst im Herzen und nur der Klang der Glocke auf dem Berge könne Heilung bringen.
Und er erzählte weiter, was er von dem Wege dorthin und seinen Gefahren wusste und, dass, trotz der hohen Belohnung, die ausgeschrieben sei, kein Mensch für den König sein Leben wagen wolle.
Da sagte das Mädchen: "Nun, wenn sich kein Mann findet, so will ich den Weg zur Glocke wagen.
Führe mich zum König, damit er mir alles genau sage." 
Der Wächter sah das Mädchen eine Weile starr an, dann tippte er ihm mit dem Zeigefinger an die Stirne und sprach lachend: "Mir scheint, bei dir ist’s da drinnen nicht ganz richtig. Wie willst du, eine schwache Frau, die großen Gefahren überwinden?"
Woher willst du die Kraft nehmen?"
Aber das Mädchen erwiderte fest: "Das lass nur
meine Sorge sein. Führe mich zum König." "
Nun, wenn du schon durchaus willst, so komm“,
meinte der Wächter und führte das Mädchen
zum König. Als es nun diesen so einsam in seinen Schmerzen liegen sah, und als es sah, wie jung und schön er war, da ward es dem Mädchen ganz seltsam ums Herz und es sagte: "Seid getrost, Herr König, Ihr sollt von Euren Schmerzen erlöst werden. Ich will den Weg zur Glocke auf dem Berge wagen,
damit ihr Klang Euch gesund mache."
Über des Königs schmerzvolles Gesicht glitt ein heller Strahl der Freude, doch sprach er:
"Habe Dank, du edles Mädchen! Doch ich zweifle,
ob es dir, einer schwachen Frau, gelingen wird,
das Wagnis durchzuführen. Gelingt es dir aber, dann
sollst du  königlichen Lohn erhalten." 
"Sprecht nicht über Lohn, Herr König," erwiderte das Mädchen, "was ich tue, das tue ich aus Mitleid und aus Liebe." 


                  M i t l e i d?    L i e b e?

 

Diese Worte hatte der König noch in seinem ganzen Leben nicht gehört, aber er ahnte, dass sie etwas Großes und Schönes, etwas Hohes und Heiliges bedeuten müssten, und wie ihm nun das Mädchen die Hand zum Abschied reichte, da konnte er nicht
anders, er, der König, als dass er die zarte Hand küsste, die warm und weich in der seinen lag.
Am nächsten Morgen machte sich das Mädchen auf den Weg. Als es am Rande der Wüste angelangt war, sah es einen Mann, der mit einer Rute auf etwas lospeitschte, was sie nicht sehen konnte.
Sie ging also hin und sah eine Schlange, welche sich unter den Rutenhieben wand und krümmte und sich vergeblich Mühe gab, ihrem Peiniger zu entrinnen.
Dem Mädchen erbarmte das Tier und es fiel daher dem Manne in den Arm und sprach vorwurfsvoll:
"Du grausamer Mann, was hat dir denn das arme Tier getan?" 
Der Mann wollte schon das Mädchen zornig abweisen, da aber sah er die sanften Augen desselben bittend auf sich gerichtet und er konnte nicht mehr barsch sein, sondern meinte nur:
"Du bist ein sonderbares Menschenkind, siehst du denn nicht, dass dies eine von den giftigen Schlangen ist, die man töten soll, wo und wann man sie findet?"
Das Mädchen antwortete: "O, ich kenne die Schlange ganz gut, aber ich weiß auch, dass sie keine Schuld daran trägt, dass sie giftig ist, und dann, sie hält sich ja ohnedies nur in der Wüste
auf, in die kein Mensch seinen Fuß zu setzen braucht.
Ich bitte dich, lieber Mann, lass das arme Tier gehen."
Der Mann schüttelte verwundert den Kopf, weil aber das Mädchen gar so schön bitten konnte, ließ er von der Schlange ab und ging seines Weges.
Als der Mann weit genug weg war, beugte sich das Mädchen zur Schlange hinab, die wie tot dalag und sagte:" So, du armes Tier, jetzt hast du vor dem bösen Manne Ruhe. Flieh aber so schnell du kannst in die Wüste zurück, denn hier an dem Rande bist du
deines Lebens nicht sicher."
Da hob die Schlange ihren Kopf empor und sagte:
"Tausend Dank, du braves Mädchen, dass du mich vor dem Tode errettet hast. Wer bist du? Und wohin gehst du?"         
Da erzählte das Mädchen der Schlange von dem kranken König, und, dass es, um ihn zu retten, zur Glocke auf dem Berge wolle und deshalb durch die Wüste müsste. Darauf antwortete Schlange:
"Die Menschen sind so hartherzig und gewiss nicht wert, dass du für einen desselben dein Leben wagst. Da du ihm aber durchaus helfen willst, so will ich dir
dabei nützlich sein. Denn wisse: Ich bin die Schlangenkönigin und alle Schlangen der Wüste sind mir untertan. Ich will dir einen Stein geben, den trag auf deiner Brust und keine Schlange
wird dir etwas zuleide tun, ja, sie werden dir sogar
große Ehren erweisen."
Damit öffnete die Schlangenkönigin ihren Rachen  und aus  demselben fiel ein gelber, durchsichtiger Stein, welcher sieben Ecken hatte, wovon eine durchlöchert war, so dass man ein Band durchziehen und ihn so um den Hals hängen konnte.
Das Mädchen sagte der Schlangenkönigin für das wertvolle Geschenk schönen Dank und darauf schritt es in die Wüste hinein. Und da sah es alsbald, wie gut der Stein war, denn bald da, bald dort hob am Wege eine Schlange ihr schuppiges Haupt; sobald aber ihre Augen den gelben Stein sahen, der einen
milden, sonnigen Schein in die Wüste warf, da streckten sie sich in ihrer ganzen Länge ehrerbietig vor dem Mädchen hin und ließen es nicht nur ungeschädigt seines Weges ziehen, sondern sie gaben
ihm sogar das Geleite. Mit jeder Stunde, welche das
Mädchen wanderte, wurde das Gefolge der Schlangen größer und als plötzlich hinter einem Felsen hervor ein Löwe angesprungen kam, um das Mädchen zu zerreißen, da stürzte sich das ganze Schlangenheer mit wütenden Bissen auf ihn, so dass ihm alle seine Tatzenhiebe und Umsichbeißen nichts helfen konnten
und er bald von dem Gifte getötet zu Boden sank.

Endlich hatte das Mädchen die Wüste durchwandert und nun stand es an dem Saume des Urwaldes, aus dem feuchte und modrig riechende Luft hauchte und ein greuliches Brüllen, Grunzen, Miauen, Zischen Fauchen an das Ohr der Mädchens drang.
Es klang, als stecke der ganze Wald voll von sich gegenseitig mordenden Tieren. Dem Mädchen lief ein eisiger Schauer den Rücken hinab, aber es nahm seinen Mut zusammen und trat in den Wald ein.
Es war erst ein paar Schritte gegangen, da sprang
ein Fuchs  über den Weg und sah es mit bösen hinterlistigen Augen an, als wollte er sagen:
'Geh nur weiter, du wirst bald aufgefressen werden.'

Auf einem Baumast saß eine große Eule und schlug mit den Flügeln und klappte mit dem krummen Schnabel, und eine Fledermaus schoss daher, und dem Mädchen ins Haar, und als dieses das Tier losmachte, da kratzte und biss es, dass dem Mädchen das Blut über die Finger rann.
Doch auch davon ließ es sich nicht bange machen, sondern ging mutig vorwärts.
Der Wald wurde immer finsterer und finsterer,  und immer schauerlicher klangen die Stimmen der Tiere durcheinander. Und plötzlich hörte das Mädchen ganz in der  Nähe ein furchtbares Gebrüll, das halb wie Zorn, halb wie Schmerz klang.
Das Mädchen tat einen Schritt zur Seite und fand da einen ungeheuren Bären, dem ein langer spitzer Knochen so in dem Rachen stecken geblieben war, dass er denselben nicht mehr schließen konnte.
Sogleich ließ sich das Mädchen neben dem zottigen Ungetüm nieder und begann behutsam mit seinen rosigen Fingern den Knochen loszulösen.
Und als ihm dies endlich nach vieler Mühe gelungen war, pflückte es ein paar Heilkräuter, die in der Nähe wuchsen, presste den Saft aus und bestrich damit die Wunden, die der Bär am Gaumen und auf seiner Zunge hatte, so dass die Schmerzen, welche
sie verursacht hatten, sogleich nachließen.
Da sprach der Bär: "Du bist ein gutes Menschkind.
Hättest du mir nicht geholfen, so hätte ich elendiglich verhungern müssen. Doch sage, wie kommst du in diesen Wald, wo du auf Schritt und Tritt deines Lebens nicht sicher bist, und wohin willst du?" Da erzählte das Mädchen auch dem Bären
von dem kranken König, und dass es, um denselben zu retten, zur Glocke auf dem Berge wolle.
Und der Bär sprach: "Ich bin der Herr dieses Waldes, weil ich der Stärkste bin. Setz dich auf meinen Rücken und halte dich an meinem Pelze fest. Ich will dich durch den ganzen Wald tragen, und kein Tier soll dir etwas anhaben können.“
Das Mädchen tat, wie ihm der Bär geheißen, und der trug es sanft durch den ganzen Wald, und die Tiere, die mordlustig herankamen, wichen scheu zur Seite, denn sie kannten die Kraft des Bären und fürchteten seine riesigen Tatzen und sein mächtiges Gebiss. Als der Bär endlich am anderen Saume des
Waldes, wo die Fels- und Eiswüsten des Berges begannen, angekommen war, ließ er das Mädchen sanft zur Erde gleiten und sprach:
"Ich will hier auf dich warten, bis du wieder zurückkommst und dich dann wieder zurück durch den Wald tragen." 

Da dankte das Mädchen dem Bären, kraulte ihm den zottigen Kopf und dann machte es sich an den Aufstieg auf den Berg. Das war schwerer als es sich das gedacht hatte. Das scharfkantige Gerölle zerschnitt die Schuhe, so dass sie bald in Fetzen von
den Füßen hingen und das Gehen nur noch schwerer machten, und als das Mädchen die Schuhe auszog, da wurde es nur noch ärger, denn jetzt schnitten die scharfen Steine in die Fußsohlen, dass das Blut aus den Wunden hervorquoll und den Boden färbte und
dem Mädchen mit jedem Schritt ein stechender Schmerz durch den Leib zuckte. Aber es hielt den Blick fest zur Höhe gerichtet, von der in strahlendem Glanze der Glockenturm herniedersah, und stieg weiter.
Nun bekam es festen Boden unter die Füße, welcher das Gehen wohl leichter machte, aber dafür gab es große Felsblöcke zu überklettern und es kamen fast senkrechte Felswände, an denen es emporklimmen musste, wobei es die Finger und Zehen in das Gestein  einkrallen musste, um nicht den Halt zu verlieren und
in die Tiefe zu stürzen. Und als auch die Felsen überwunden waren, da kam die Eiswüste, die hohe, steile Eisfläche, die zum Gipfel  hinanführte, von dem ein eisiger Sturm hernieder fuhr, der jeden Augenblick das Mädchen in den Abgrund zu schleudern drohte und dazu noch sein Blut erstarren machte. Jeder Schritt
auf der glatten Eisfläche kostete unendliche Mühe, und erschöpft sank das Mädchen endlich nieder, um ein wenig auszurasten.

 

Da hörte es neben sich ein Geräusch, und als es sich
demselben zuwendete, sah es einen jungen Adler,
der ängstlich mit den Flügeln schlug. Augenblicklich vergaß das Mädchen den eigenen Schmerz und nahm mitleidig den Vogel, dessen Herz furchtbar pochte, in die Arme und sagte: "Fürchte dich nicht, du lieber Vogel, ich tue dir nichts zuleide. Komm, wärme dich bei mir, du bist ja ganz kalt und starr." Da piepte der Vogel ganz matt: "O, ich muss sterben. Schon drei Tage habe ich keinen Bissen mehr gegessen, denn als ich eben das Fliegen versuchen wollte, da hat mich der Sturm erfasst und fortgetragen und nun liege ich hier auf dem Eise und muss verhungern. O, hätte ich nur ein kleines Stückchen Fleisch!"
Das Mädchen erwiderte: "Wie gerne möchte ich dir helfen, aber ich habe nur mehr einen halben Apfel und ein ganz kleines Stück Brot, und das ist nichts für dich. Doch weißt du was?"
Die Augen des Mädchens leuchteten fröhlich auf, denn im selben Augenblick war ihm etwas eingefallen.
"Hacke dir aus meinem Arm ein Stückchen Fleisch heraus. Mir schadet das nichts und dich rettet es vor dem Verhungern." Da sah der Vogel das Mädchen dankbar an, hackte dann ein kleines Stück Fleisch aus dem Arme des Mädchens und das gab ihm sogleich wieder mehr Kraft. Nun aber waren die alten Adler
seit dem Verschwinden des Jungen eifrig auf der Suche nach ihm, und es trug sich zu, dass sie gerade über dem Mädchen schwebten, als dieses dem jungen Adler den Arm zur Speise bot. Sie hatten das gesehen und schwebten hernieder. Das Mädchen erschrak, als es plötzlich die Riesenflügel der beiden Vögel über
sich rauschen hörte, aber der eine Adler sprach, indem er sich neben dem Mädchen niedergelassen hatte: "Fürchte dich nicht, du gutes Mädchen; ich habe gesehen, wie du unser Junges speistest und vor dem Hungertode errettest und ich möchte dir dafür zum Dank etwas Gutes tun. Sage mir einen Wunsch,
und wenn ich ihn erfüllen kann, so will ich es mit Freuden tun." Da erzählte das Mädchen dem Adler, dass es zum Kristallturm auf dem Gipfel des Berges wolle, um dort die Glocke zu läuten, deren Klang den kranken König gesund machen könne. Aber es sei schon ganz erschöpft und werde wohl nicht mehr
hinaufkommen. 
Da sprach der Adler zum zweiten: "Nichts leichter als das. Komm, wir wollen dieses gute Menschenkind hinauftragen." Damit hakte er seine Krallen an der rechten Seite des Gürtels, des das Kleid des Mädchen umschloss, der andere Adler tat dasselbe links, das Mädchen hielt den jungen Adler an seiner Brust, und
so trugen sie es hinauf und stellten es sanft auf der Schwelle des Kristallturmes nieder. Hier oben war es wunderschön. Eine weiche, warme Luft wehte, die sinkende Sonne beschien die Kristallquadern des Turmes, dass sie wir Purpur glänzten und drunten lag das Land wie ein Teppich hingebreitet, in bunten
Farben; gelbe Wüste, grüne Fluren, dunkle Wälder, weiße Städte und dazwischen die blauen Bänder der Flüsse. Das Mädchen konnte sich gar nicht sattsehen.
Erst als die Sonne untergegangen war, trat es in das Innere des Turmes. Da sah es oben die große, silberne Glocke hängen und von dieser ging ein Glanz aus, wie Mondenschein, der das ganze Gemach mit mildem Lichte erfüllte. Es war auch ein Lager von weichen Polstern und Decken vorhanden und neben demselben
in einer großen marmornen Schale war ein Wasser, von dem ein wundersamer Duft, wie von Veilchen, aufstieg. 
Da wusch sich das Mädchen mit dem Wasser die Augen, die noch von dem eisigen Winde brannten und augenblicklich war aller Schmerz verschwunden. Nun wusch es sich auch noch den wunden Arm und die blutenden Füße und sogleich schlossen sich die
Wunden, und Arm und Füße waren wieder heil und gesund. Eben wollte sich das Mädchen auf das Lager hinstrecken, da entdeckte es noch in einer Ecke des Turmgemaches ein goldenes Tischchen und darauf standen köstliche Speisen und Getränke, Obst und
feines Backwerk. Das alles ließ sich nun das Mädchen trefflich munden, und legte sich auf das Lager hin und schlief ruhig ein.
Am nächsten Morgen, es war gerade Samstagmorgen,
wurde das Mädchen durch ein ungemein liebliches Klingen, das wie ein schöner Gesang anzuhören war, aus dem friedlichen Schlummer geweckt. Es kam von der silbernen Glocke her, an welcher der Morgenwind vorüberstrich. Rasch erhob sich das Mädchen, um den Aufgang der Sonne nicht zu versäumen, denn sonst wäre der ganze Weg umsonst gewesen. Und nach
einer kleinen Weile, da wurde es im Osten hell und immer heller, die Wölkchen, die über den Himmel schwebten, bekamen eine Farbe wie frische Rosen und endlich stieg leuchtend die Sonne herauf.
Da fasste das Mädchen das Seil, das von der Glocke herabhing und ganz als goldenen Schnüren geflochten war, und begann zu läuten.
Hell und rein klang der Ton hinaus in die Lüfte und hinunter ins Land, und er war so schön, wie das Mädchen noch keinen gehört hatte. Er klang wie das Singen und Jauchzen, wie Beten und Weinen, jetzt war es, als schlügen schwere Hämmer donnernd auf einen  ungeheuren Amboss, und dann war es wieder,
als klängen durch abendstille Fluren eine wunderschöne, ferne Musik. Dem Mädchen wurde bei den herrlichen Tönen ganz wundersam ums Herz, und wäre es nicht müde geworden, es hätte nicht sobald aufgehört, an dem Seile der Glocke zu ziehen.


Es freute sich schon auf die Mittagsstunde, und als die Sonne gerade über der funkelnden Turmspitze stand, auf der ein Stern aus einem großen Diamanten blitzte, da läutete es wieder und dann zum dritten Male, als die Sonne hinter die fernen Berge sank.
Nun hatte es sein Werk vollbracht. Fröhlich aß das Mädchen wieder von den köstlichen Speisen, die auf dem goldenen Tischchen standen und dann legte es sich auf das weiche Lager hin und schlief bis zur Frühe des nächsten Tages. Da kamen die Adler und trugen das Mädchen hinunter bis zum Walde und hier wartete schon der Bär, auf dessen Rücken es durch Wald zur Wüste ritt.

 
 Da waren auch wieder die Schlangen, um dem Mädchen auf seinem Heimwege ihr schützendes Geleite zu geben.
In der Stadt aber, wo der König wohnte, und in dem ganzen lande, das er regierte, waren ganz merkwürdige Dinge vor sich gegangen. Als die Glocke zum ersten Male erklang und ihr Schall
laut und feierlich durch die Straßen und Gassen der Stadt und weit über das ganze Land klang, da liefen die Leute zusammen und lauschten verwundert. Es wurde ihnen ganz seltsam und
weich ums Herz und fragend sahen sie sich gegenseitig in die Augen. So etwas Schönes hatten sie noch nie gehört und da dachten sie auch plötzlich nicht mehr nur an sich selbst,
sondern auch an die Kranken, welche einsam in ihren Kammern lagen; Eltern holten ihre kranken Kinder, und Kinder ihre kranken Eltern, Brüder ihre kranken Schwestern und trugen sie auf die
Gasse, damit auch sie die schönen Klänge hören und sich an denselben erfreuen könnten.
Und wie die Kranken lauschten, da wurden von Minute zu Minute ihre Schmerzen geringer und etliche wurden sofort ganz gesund.
Der König lag gerade in den ärgsten Schmerzen, als die Glocke zu klingen begann. Kaum aber hatte er den ersten Ton vernommen, da war ihm, als streiche ihm eine linde Hand mild über das
Herz und die Schmerzen ließen sofort nach.
Ja, sie wurden sogar so weit gut, dass er zum ersten Mal nach langer, langer Zeit das Bett verlassen und sich in den Lehnsessel setzen konnte. Da kamen auch seine Diener herbei, denen es plötzlich einfiel, dass sie ja doch ihren kranken König nicht so allein lassen dürften, warfen sich vor ihm auf die Knie, baten um
Vergebung, dass sie sich solange nicht hätten sehen lassen, und der König verzieh ihnen.
Da schoben sie den Lehnsessel ans Fenster, damit der König die wunderbaren Glockenklänge noch deutlicher vernehmen könne.
Als die Glocke zu läuten aufhörte, seufzten alle tief auf, denn sie hätten noch stundenlang stehen und lauschen können, ohne dessen müde zu werden.

Umso größer war deshalb ihre Freude, als die Glocke zu Mittag wieder zu tönen anhub.
Der König, der bei den neuerlichen Klängen seine Krankheit fast ganz von sich weichen fühlte, gab vor lauter Freude den Befehl, dass alle Gefangenen aus den Kerkern sollten entlassen
werden. Dann ließ er seine Schatzhäuser öffnen und die Armen mit reichen Gaben beschenken.
Und wie er, machten es auch die Reichen seines Landes. Sie konnten kein kummervolles Gesicht mehr um sich sehen und gaben von ihrem Reichtum freiwillig an diejenigen ab, welche nichts besaßen, die Bettler wurden mit schönen Kleidern bekleidet,
und wer unrechtes Gut hatte, der gab es demjenigen zurück,  dem er es abgenommen hatte.

Als aber am Abend die Glocke zum dritten Mal  erklang, da wollte der Jubel kein Ende nehmen.
Jung und alt, vornehm und gering, reich und arm, alle zogen jauchzend durch die Straßen, schüttelten einander die Hände, umarmten und küssten sich, als wären sie alle unter sich Brüder
und Schwestern. Und da erschien auch der König, frisch und gesund, als wäre er nie krank gewesen, und angetan mit dem Purpurmantel und mit der Krone auf dem Haupte in all seiner Pracht, und das Volk jubelte ihm entgegen und drängte sich
an ihn heran, um seine Hände oder wenigstens den Saum seines Mantels zu küssen, und die Leute konnte es gar nicht begreifen, dass sie sich früher so wenig um ihn bekümmert hatten und
überhaupt, dass sie gegeneinander so lieblos gewesen waren. Und wie der König mit seinem glänzenden Gefolge durch die Straßen zog, da schloss sich das ganze Volk ihm an und sie zogen
vor die Stadt hinaus, der Wüste zu, um das Mädchen zu erwarten, das ihnen all dieses Glück gebracht hatte.

Als das Mädchen herankam, wunderte es sich, so viele Leute zu sehen und wusste nicht, was dies wohl zu bedeuten habe.
Und als es gar auch noch den König sah, da sank es vor diesem in die Knie. Der aber nahm seine goldene Krone  von dem Haupte, setzte sie dem Mädchen auf die blonden Locken und dann hob
er das Mädchen auf und setzte es auf sein Pferd.
Darauf fasste er die Zügel des Pferdes und, neben demselben einhergehend, zog er, gefolgt von der jauchzenden Volksmenge, die den ganzen Weg mit Blumen bestreute, in die Stadt zurück.
Und da hielt der König Hochzeit mit dem Mädchen und beide regierten lange und glücklich über ihr glückliches Volk.

 

 

Das fröhliche Herz

Es war einmal ein Vater, der hatte drei Söhne:
Hans, Fritz und Friedel. Sie halfen ihm fleißig und ohne Murren bei der Arbeit von früh bis spät und vertrugen sich auch untereinander recht gut, was sonst unter Brüdern nicht immer der Fall zu sein pflegt.

Als es nun mit dem Vater zu Ende ging, rief er die drei Söhne an das Sterbebett und sagte:
"Meine lieben Kinder! Ich werde nun sterben:
Habt Dank für eure kindliche Liebe und Treue, habt Dank für die Freude, die ihr mir in meinem Alter gemacht habt. Ihr habt mich immer für arm
gehalten, ich bin es jedoch nicht. Hier habe ich Schätze, wie sie kein Fürst der Erde besitzt."

Damit zog er unter Decke einen unscheinbaren Beutel aus grauen Katzenbalg hervor, hielt ihn mit zitterndem Arm empor und fuhr fort:
"In diesem Beutel findet ihr eine Brieftasche, die ein Jahr lang nicht leer wird, mag aus ihr genommen werden, wie viel immer; dann ein Buch, darin steht alles, was je auf der Welt war und
fernerhin sein wird; und dann ein kleines goldenes Herz. Wer dieses auf seiner Brust trägt, wird immer froh und glücklich sein. Teilt diese Gaben ohne Streiten, verwendet sie wohl und weise....."

Ein heftiger Hustenanfall verhinderte den Sterbenden am Weitersprechen und dann sank er tot in die Kissen zurück.

 

"Er ist tot!" sagte der älteste mit leiser, zitternder Stimme.

"Ja, er ist tot!" sagte nun auch der zweite, und hellen Tränen rannen ihm über die Wangen.

Der jüngste aber sagte gar nichts; er kniete nur neben dem Bette nieder und küsste die schlaff herabhängende Hand des Vaters immer wieder und wieder, streichelte über das greise,
feuchte Haar des Toten und flüsterte treue Worte, als könnte sie der Tote verstehen.

So trieb er es wohl eine Stunde lang.
Er merkte gar nicht, dass seine Brüder inzwischen den Beutel zu sich genommen hatten und aus der Stube gegangen waren, er hörte es gar nicht, wie sie draußen heftig stritten, weil jeder die
Brieftasche haben wollte, er war aber auch ganz zufrieden, als die Brüder nach einer Weile wieder hereinkamen und ihm das kleine goldene Herz übergaben. Er beneidete Hans weder um seinen Reichtum, noch Fritz um seine Weisheit.

Und er konnte auch zufrieden sein, denn Hans ließ wohl den Vater mit aller Pracht begraben, aber er fand doch in all dem Prunk und Pomp keinen Trost. Fritz wieder las in seinem Buche
über den Tod, fand aber auch keinen Trost, denn da stand, dass der Tod die Pforte zum Nichts sei, Reichtum, Macht, Weisheit, Schönheit, sie könnten den Menschen wohl ein paar Jährchen
erfreuen, aber das Ende sei doch eine handvoll  Staub und Erde, sonst nichts. Traurig, unsäglich traurig schlichen die beiden nach Hause.

Friedel aber kniete noch eine Weile vor dem offenen Grabe und weinte sich den Schmerz von der Seele. Als er sich aber erhob, da lachte ihm die Erde in blühender Pracht entgegen, eine Lerche
stieg aus dem Langen Friedhofsgras hinauf in das strahlende Blau, da war es ihm, als sänke ein stiller Vatersegen auf sein blondes Haupt nieder, ein frommer Segen, der ihn begleiten sollte auf allen seinen Wegen, ihn beschützen vor aller Not
und Fährde. Und da wusste Friedel, dass er seinen
Vater nicht verloren habe und mit leuchtenden Augen schritt er vom Grabe weg in das schimmernde Land hinein.

In den nächsten Tagen verkauften die Brüder das väterliche Haus, teilten redlich den Erlös und dann zogen sie auf getrennten Wegen in die Welt hinaus, ihr Glück zu suchen.

Da Hans das Gehen bald unbequem fand, kaufte er sich ein silberne Kutsche mit sechs Pferden davor, nahm sich Diener und reiste wie ein König durch die Lande. Den armen Leuten, die sich an seinen Wagen drängten, warf er mit vollen Händen
Goldstücke zu, und wo er Nachtherberge nahm, da lud er alle Vornehmen zu sich und die Tafel bog sich unter der Last köstlicher Gerichte.

So kam er auch einmal in ein großes Reich.
Da waren reiche Märkte und schöne Städte, die Leute spazierten in feinen Kleidern und nirgends war ein Armer zu sehen.

'Das muss ein gesegnetes Land sein!' dachte er.
Doch fiel ihm auf, dass alle Menschen mit ernsten Gesichtern herumgingen und nirgends der helle Ton eines fröhlichen Lachens zu hören war.

Als er abends deswegen den Wirt fragte, sagte dieser: "Ja, Eure Hoheit, das ist eine traurige Geschichte. Hierzulande ist das Lachen bei Todesstrafe verboten. Unser guter König hat eine
einzige Tochter und die ist seit ihrer Geburt von unheilbarem Trübsinn befallen. Der König hat alles getan, dem Übel abzuhelfen, aber vergebens.
Er hat dann ausrufen lassen, dass derjenige, der die Prinzessin zum Lachen bringt, ihre Hand und die Krone erhalten soll, und es sind schon viele hingezogen, um das Wunder zu vollbringen, aber
alle haben sie mit Schande und Spott abziehen müssen. Da ist auch der König traurig geworden und hat im ganzen Lande das Lachen so lange verboten, bis die Königstochter selbst einmal lacht."

'Die Hand der Königstochter und die Krone obendrein?' dachte Hans, das wäre wohl einen Versuch wert. Und am nächsten Tag ging er richtig zum König und erbot sich, die Königstochter zum
Lachen zu bringen.

"Es soll mir recht sein, sagte der König, und ich gebe dir ein volles Jahr Zeit, hast du aber bis dahin das Kunststück nicht zuwege gebracht, so sollst du vor allen Leuten durch die Büttel der Stadt aus der Stadt gepeitscht werden."

Hans war es zufrieden und der König räumte ihm ein Zimmer im Schlosse ein, damit er immer um die Prinzessin sein könne.

Hans ließ nun alle Schätze herbeiholen, die sich nur denken ließen. Er kaufte Perlen, von denen eine ein ganzes Königreich wert war; er ließ die schönsten Geschmeide aus Gold und Edelsteinen herstellen und machte sie der Königstochter zum
Geschenk; er ließ ihr Kleider aus Stoffen machen, die so fein waren, dass man das ganze Kleid durch einen Fingerring ziehen konnte, doch sie lächelte nicht einmal.

Darauf ließ er einen Palast bauen aus lauter Alabaster und einen Garten ringsherum anlegen, in dem alle Sträucher, Bäume und Blumen aus Silber, Gold und Edelsteinen gefertigt waren, jedoch so, dass sie natürlichen Blumen täuschend ähnlich waren,
und in dem Garten ließ er künstliches Getier herumkriechen, ebenfalls der Natur zum Verwechseln nachgeahmt, aber alles war vergebens.
Nun sandte er Boten aus und ließ aus allen Ländern der Erde der Prinzessin die schönsten Gespielinnen zusammenholen. Da kamen die hochgewachsenen, blonden Töchter des Nordens, die schwarzhaarigen, feueräugigen Mädchen des Südens, goldbraune,
überaus graziöse Hindumädchen und schwarze Berberinnen mit opalweißen Augen und blutroten Lippen. Und die Nordländerinnen sangen Lieder, die klangen wie Meeresrauschen und Windgesang auf weiten Hochlandsheiden, und die aus dem Süden
schlugen die Laute, herzbetörend und sinnverwirrend,
und die Inderinnen und Berberinnen tanzten dazu ihre sonderbaren, wunderlichen Tänze und bogen ihre Leiber, dass es aussah, als verstrickten sich Schlangen zu gleißenden Knäueln.
Doch die Königstochter lachte nicht.

Nun wusste Hans nur noch eines. Es ließ aus allen Erdteilen das seltsamste Getier herbeischaffen und von den geschicktesten Leuten dressieren.

Der letzte Tag des bedungenen Jahres war erschienen und Hans ließ den ganzen Hofstaat zusammenrufen und die Tiere vorführen.

Voran kam ein Trupp Affen in kostbare Gewänder gehüllt, sie spielten verschiedene Instrumente und es war eine ganz richtige Musik.
Dann kam eine Abteilung Grenadiere, das waren Giraffen. Auf die folgten weiß gekleidete Katzen mit Blumenkörbchen und hinter ihnen ging das Brautpaar. Bräutigam war das Rhinozeros.

Es trug einen schwarzen Anzug, Zylinder und weiße Handschuhe und auf seinem Horn einen Blumenstrauß.
Die Braut aber was das Flusspferd, hatte ein weißes Seidenkleid an, dessen Schleppe ein Paar Störchen zierlich trugen, einen langen, langen Schleier und gelbe Lederschuhe. Hinter dem Brautpaare kamen Paar um Paar die übrigen Tiere, alle in den
possierlichsten Verkleidungen.

Die Hofleute schnitten die merkwürdigsten Grimassen, um das Lachen zu unterdrücken, und der dicke Hofmarschall bekam sogar einen Erstickungsanfall. Aber die Prinzessin verzog keine
Miene. Gelangweilt sah sie den Zug an, dann gähnte
sie und wendete sich ab.

"Du hast dir zwar viele Mühe gegeben, bist aber doch ein Stümper," sagte der König zu Hans.
Dann rief er seine Büttel und die peitschten Hans zu Stadt hinaus, dass ihm die Kleider in Fetzen vom Leibe hingen und das Blut in kleinen Bächlein über seinen Rücken rieselte. Doch er tröstete sich mit
seiner Brieftasche. Als er diese aber öffnete, war nichts drinnen, sie hatte ihren Zauber verloren.
Wie ein Bettler schlich Hans davon.

Wie er so dahin ging, begegnete ihm sein Bruder Fritz. Diesem klagte er sein Leid und erzählte ihm die Geschichte von der Königstochter.

"Weißt du, Hans“, sagte Fritz, "dein Reichtum war totes Gut. Meine Weisheit ist aber lebendig und ich werde mit ihr die Königstochter zum Lachen bringen."

Am nächsten Tag meldete er sich bei dem Könige und wurde unter derselben Bedingung wie Hans angenommen.

Da saß er nun Tag für Tag bei der Königstochter und las ihr aus seinem Buche vor. Und die Worte hatten solche Kraft, dass sie alles, was er las, leibhaftig vor sich sah. Da sah sie die Urweltmeere mit ihren merkwürdigen Ungetümen, da sah sie
das Erz wachsen in den geheimen Gängen der Erde, sie sah die Säfte in den Pflanzen emporsteigen und Blatt und Blume formen, sie wandelte durch die Weiswüsten der Pole, durch die schwülen Urwälder der Tropen und durch die purpurne Finsternis der Meeresgründe; längst untergegangene Völker trieben vor ihren Augen Handel und Wandel, die Atlantis und Lemurien tauchten aus ihrem Wogengrabe auf, Ninive, Babylon und Ani erstanden in ihrer einstigen Pracht, sie nahm teil an den Festen der Astarte und der Pallas, und sie sah auch in die Zukunft und sah Schiffe durch die Luft segeln, sah die Bewohner der Sterne auf glitzgetragenen Kutschen einander besuchen; aber sie verzog gelangweilt das Mündchen, und als das Jahr um war, da wurde auch der zweite Bruder mit Schande und Spott aus der Stadt gepeitscht.

Hans saß vor der Stadt traurig auf seinem Steine und erwartete seinen Bruder, und als dieser zerlumpt und blutend ankam, da gingen sie miteinander fort, irgendwo Arbeit zu suchen, denn
auch das Zauberbuch hatte seine Kraft verloren.
Die Schrift war verschwunden und es war nichts mehr, als ein Stoß leerer, abgegriffener Blätter.

Als die Brüder eine Stunde gegangen waren, kam ihnen ein junger Mann entgegen, der pfiff und sang und war lustig und guter Dinge.
Als er näher kam, sahen sie, dass es ihr jüngster Bruder Friedel sei. Der erstaunte über ihr zerlumptes Gewand und sie erzählten ihm nun, wie es ihnen ergangen war.

"Nun, aller guten Dinge sind drei," sagte Friedel, "jetzt komm ich dran."

Die anderen warnten ihn, aber er meinte: "Ihr habt es sicher nicht recht angepackt. Ich werde euch zeigen, wie man das macht." Und dabei lachte er hell auf.

Während sie aber noch mitsammen sprachen, kamen die Häscher daher. Sie fragten, wer da gelacht habe, und als Friedel sagte, dass er es gewesen sei, erklärten sie ihn für verhaftet.

"Auch gut," sagte dieser, "so kommen ich doch sicher zum König und kann nicht gestohlen werden!"

Und wieder lachte er fröhlich auf und schritt, den ganz verdutzten Häschern Schelmenlieder singend, voran zur Stadt.

Als der König von dem Frevel vernommen hatte, sah er den Fremdling durchdringend an und sagte:
"Du hast dich unterstanden, mein Gebot zu übertreten, dafür soll dir der Kopf abgehackt werden."

Aber Friedel erwiderte ganz munter: "Gemach, Herr  König, lasst mir den Kopf noch auf ein Jährchen, ich brauche ihn notwendig. Gelingt es mir in dieser Zeit, eure  Tochter fröhlich zu
machen, so will ich Euer Eidam werden und dazu brauche ich den Kopf; gelingt es mir aber nicht, so nehmt nur den Kopf hin, denn dann ist er ohnehin nichts wert."

Der König war über den kecken Jüngling erstaunt, aber er ging auf den Vorschlag ein.

Noch am selben Tage ging Friedel mit der Königstochter spazieren.

"Weißt du was, Königstochter“, sagte er, "wir wollen recht gut zusammen sein, so wie Bruder und Schwester. Wir wollen uns auch beim Vornamen nennen. Ich heiße Friedel. Und wie
heißt du?"

Die Königstochter sah ihn groß an, denn so freundlich hatte noch niemand zu ihr gesprochen.Dann antwortete sie: "Ich heiße Hulda."

"Hulda? Siehst du, der Name gefällt mir und der passt auch für dich, denn du bist wirklich hold.
Diese lieben, blauen Augen, diese samtweichen Haare - " er ließ dabei ihre wallenden Locken durch seine Finger gleiten "- und dieses rote Mündchen - Schwesterchen, das muss ich gar
küssen!"

Und er küsste sie wirklich. Wieder sah ihn die Prinzessin groß an, aber gar nicht unwillig, und als sie abends in ihrer Kemenate war, da stellte  sie sich zum ersten Mahle vor den großen Spiegel,
um zu sehen, ob sie denn wirklich so hübsch sei, wie Friedel sagte.

Am nächsten Tage, als Friedel wieder mit der Königstochter im Garten spazieren ging, sagte er:
"Du, Hulda, euer Garten da ist zwar sehr schön, aber tausendmal schöner ist es draußen auf den Wiesen und im Walde. Komm, wir wollen hinaus!"
Und er führte sie hinaus auf die blumigen Wiesen, über denen die Schmetterlinge flogen und weiter hin zum Walde, aus dem würzige Kühle wehte.
Und als die Prinzessin müde war, ließen sie sich am Waldrand nieder. Verträumt raunte der Wind in den Kronen, die Eichhörnchen turnten durchs Geäst und die Vögel sangen, dass es nur so hallte und schallte.

Die Königstochter lauschte. Das hatte sie noch nie gehört, denn sie war noch nie aus dem Schlosse gekommen. Aber der Vogelsang dünkte ihr weit schöner als die Musik an der königlichen
Tafel, und die schlichten Blumen des Feldes gefielen ihr auch besser als die Blüten im Königsgarten. Darum ging sie nun auch Tag für Tag mit Friedel auf die Wiesen und in den Wald
und es gefiel ihr immer besser, am besten aber, denn Friedel lustig singend ein Kränzlein wand, das er ihr in die Locken drückte. Dann kehrten sie Arm in Arm heim und die Leute, die sie sahen, sagten: "Ein schönes Paar! Wenn's ihm doch gelänge!"

Die Königstochter ward von Tag zu Tag freundlicher, ihre Augen begannen zu glänzen, ihre Wangen wurden frisch und die freute sich auf jeden Morgen, da Friedel kam, sie abzuholen, denn sie hatte ihn lieb gewonnen.

Eines Tages aber, als er ihr wieder das Blumenkrönlein auf gesetzt hatte und nun scherzend vor ihr niederkniete, um ihr zu huldigen, da kam unter seinem Wams das kleine, goldene
Herz zum Vorschein, das er  an einem Seidenbande trug.

"Was hast du da?" fragte die Prinzessin. "Oh, nichts, antwortete er, nur ein Andenken von meinem Vater." Er dachte gar nicht an den Zauber des Herzens. "Schenk mir das!" bat sie. "Du hast
ja viel schönere Sachen, lass mir das!"

Aber sie wollte das Herz durchaus haben, und nicht ab zu bitten, bis er es ihr umhängte.

"Du musst mir aber einen Kuss dafür geben!"
sagte er dabei. Die Königstochter wurde über und über rot, dann aber kam ein seliges Leuchten in ihre blauen Augen und auf einmal schlang die Arme um seinen Hals und küsste ihn einmal und noch einmal und ein drittes Mal, und er zog sie fest an
sie und küsste sie wieder. Als er sie dann losließ und mit zwei Fingern ihr gesenktes Köpfchen emporhob, da sah sie ihn ganz glücklich an und lächelte, und da fingen sie beide zu gleicher Zeit
recht herzlich zu lachen an. Dann fielen sie sich wieder in die Arme und küssten sich, und Friedel wollte sie gar nicht loslassen. Sie aber riss sich los und lief ihm davon. "Fang mich, fang mich!" rief sie neckend. Da lief er ihr nach, stolperte aber und fiel der Länge nach hin, und da lachte sie wieder und er lachte auch und  so tollten sie durch die Wiesen bis an das Stadttor heran.

Die Leute aber hatten das Lachen schon gehört und rannten scharenweise zum Tore hinaus, und wie sie da die Königstochter so fröhlich sahen, und ihr helles Lachen hörten, da lachten auch sie, und der König, der herzukam, stimmte ebenfalls ein, und Friedel behielt nicht nur seinen Kopf, sondern bekam auch noch die Prinzessin und die Krone.

Sofort aber wurden Boten durch das ganze Reich gesendet, welche verkündeten, dass nun wieder gelacht werden dürfe, und da war das ganze Land eitel Freude und Lachen, und wenn
sie nicht aufgehört haben, lachen sie noch.

 

 

 

 

Der Schneider und die Kirchenmaus

 

Es war einmal ein Schneider, der war so arm wie eine Kirchenmaus. Es hatte keine Frau und keine Kinder, kein Geld und keine Arbeit, aber er war noch jung und hatte Freude zur Arbeit und ließ sich’s drum nicht anfechten, sondern hoffte
immerzu darauf, dass auch für ihn einmal der Tag kommen müsse, wo die Kunden nur so bei ihm ein- und ausströmten , so dass er gleich ein Halbdutzend Gesellen brauchte und Geld hätte
in Hülle und Fülle. Handwerk hat einen goldenen Boden, sagte er immer, es dauert nur manchmal lange, bis man auf den Boden kommt.

Vorderhand war er freilich noch ganz an der Oberfläche. Nichtsdestoweniger hatte er sich aber doch selbständig gemacht und war selbst Meister, da er aber kein Geld hatte, um sich in
der Stadt eine  Werkstatt und Wohnung zu mieten, so zog er ein gutes Stück vor die Stadt hinaus und mietete dort ein kleines, halbverfallenes Haus an der Landstraße. Da gehen viele Leute vorbei, dachte er, und wenn sie sehen, dass hier ein guter
und billiger Schneider wohnt, werden sie ihm Arbeit bringen. Nicht weit von dem Hause standen noch einige Trümmer einer Kirche.
Es waren dies die einzigen paar Dinge, welche der große Krieg von einem schönen Dorf übriggelassen hatte.

Nachdem also der Schneider mit dem Rest seines ersparten Geldes die Miete auf ein halbes Jahr bezahlt hatte, zog er in das Haus und wartete auf Kundschaft.

Aber da hatte er gut warten. Die erste Woche kam niemand, in der zweiten Woche sprach einmal ein Handwerksbursche vor und ließ sich für ein „Dank dir Gott“ seinen Rock flicken, und in der
dritten kam wieder niemand.
Da aber der Schneider doch auch essen wollte, so blieb ihm nichts übrig, als zu den benachbarten Bauern zu gehen, um sich von ihnen Brot und Milch und Eier zu holen.
Die Bauern gaben ihm zwar, aber nicht umsonst, er musste dafür ihre Kleider machen.
Geld bekam er aber keines.

So verging ein halbes Jahr und der arme Schneider sollte wieder die Miete zahlen, hatte aber keinen Heller in der Tasche.
Er ging deshalb zu dem Kaufmann, dem das Haus gehörte, in die Stadt, erzählte ihm wahrheitsgetreu, wie es ihm bisher gegangen sei, und bat ihn, er möge ihn doch noch ein weiteres
Halbjahr im Hause lassen, bis dahin würde er schon an Geld kommen.

Davon wollte aber der Kaufmann, der ein großer wissen, sondern sagte: „Ja, lieber Freund, das ist eine böse Geschichte. Umsonst kann ich dich das Haus nicht bewohnen lassen, denn umsonst ist nur der Tod. Aber du kannst ja die Miete abarbeiten.
Ich gebe dir ein Stück Stoff für ein Dutzend Anzüge. Wenn du mit dieselben fix und fertig abgeliefert hast, sind wir quitt.“

Der Schneider war es zufrieden, nahm der Stoff und ging nach Hause. Als er aber am nächsten Morgen das Stück hernahm, um es zuzuschneiden, da war mitten hinein ein großes Loch genagt, so dass er eine Fleck wegschneiden musste und deswegen eine Hose zu wenig aus dem Stoff bekam. Darüber war nun der Kaufmann sehr aufgebracht und der Schneider, wollte er nicht aus dem Hause geworfen werden, musste sich verstehen, dem Kaufmann ein weiteres Dutzend Anzüge umsonst zu machen.

Als er aber das neue Stück zum Zuschneiden hernahm, da war auch in dieses wieder ein Loch gemacht und diesmal ein noch größeres, so dass der Schneider um eine Hose und ein Weste zu
wenig bekam. Nun schrie und jammerte der Kaufmann noch mehr und der Schneider sah sich gezwungen, sogar anderthalb Dutzend Anzüge nochmals umsonst zumachen.

Diesmal war er aber vorsichtig. Er hatte recht gut erkannt, dass er eine Maus im Hause haben müsse, die ihm den Schaden machte, und deshalb stellte er neben dem Stoff eine Mausfalle auf.

Und richtig: am nächsten Tage hatte sich darinnen ein kleines, graues Mäuslein gefangen.
Der Schneider nahm die Falle her, besah sich das Tierlein und sagte dabei: „Also du bist’s. Na wart, jetzt musst du sterben.“

Da piepste das Mäuslein ängstlich und sprach:
„Lieber Schneider, tu mir nichts zuleide, Hunger tut weh  und ich habe deine Stoffe nur aus Hunger angenagt.“

Den Schneider, der ein guter Bursche war, dauerte das Tierchen und er erwiderte:
„ Ja warum nimmst du dir denn nicht von dem Brot in der Kammer: Davon ließe ich dir ja gerne ein Stückchen.“

Die Maus aber schüttelte traurig das Köpfchen und sprach: „Brot ist leider nichts für mich. Weißt du, ich bin eine Kirchenmaus und die verlangen nichts als Holz und besondere Stoffe. Als die Kirche da drüben noch stand, da habe ich an den Seidenfahnen, an den Messgewändern und Chorröcken geknabbert und deshalb ist mein Magen auch nur auf diese Speise eingerichtet.
Von Brot bekomme ich Magenkrämpfe.“

„Ja, was tu ich da?“ Meinte der Schneider.
“ Ich kann mir doch von dir die  Stoffe nicht
zernagen lassen!“

Da bat die Maus wieder: „ Lieber Schneider, lass mich leben. Ich will dich reich machen. Nur musst du mir versprechen, von dem
Kaufmann keine Arbeit mehr anzunehmen, er mag tun und sagen, was er will.
Wenn es nicht wahr ist, was ich sage, magst du mich töten.“

Der Schneider war es zufrieden, ließ die Maus los und ging an seine Arbeit.

Als er das letzte Stück sorgfältig gebügelt hatte, legte er den ganzen Stoß Anzüge fein säuberlich zusammen und begab sich zur Ruhe.

Am nächsten Morgen stand er frühzeitig auf, lud das Kleiderbündel auf den Rücken und trabte munter pfeifend zur Stadt, denn er freute sich, mit dem Kaufmann  endlich fertig zu sein.

„Guten Morgen!“ rief er fröhlich, als er in den Laden trat.  Heute bringe ich einmal alles!

„So?“ meinte der Kaufmann und machte ein saures Gesicht, denn es passte ihm gar nicht, dass er keine so billigen Anzüge mehr bekommen sollte: „Nun, wir werden ja sehen!“

Der Schneider schnürte das Bündel auf und der Kaufmann besah sich ein Stück nach dem andern.
Da war ihm dies nicht recht und dort jenes, er mäkelte und schimpfte und nannte das Ganze eine Schleuderarbeit. Als es den letzten Rock besah, entdeckte er zu allem Überfluss auch noch in
dem Ärmel ein Loch. Nun ging das Donnerwetter
erst recht los.  Ob denn er, der Schneider, glaube, dass man solch niederträchtig gearbeitete und noch dazu schadhafte Ware verkaufen könne!
Eine Schande  und ein Spott sei es. Aber er, der Kaufmann, sei nicht gesonnen, sich von dem Schneider um Hab und Gut bringen zu lassen.
Um den Schaden wieder gut zu machen, müsse er mindestens noch zwei Dutzend Anzüge machen.

Als der Schneider so über seine Arbeit, die er doch wie sonst gewissenhaft ausgeführt hatte, schimpfen hörte, wurde er doch zornig.
Aber er bezwang sich und sagte nur: „Wenn ich so schlecht arbeite, so ist es unklug von Euch, mir wieder Arbeit zu geben.
Ich mag Euch keinen Schaden mehr machen und nehme nichts mehr an!“

„Nun, dann hat Er auch in meinem Hause nichts mehr zu suchen“, schrie erbost der Kaufmann, „könnt Euch hinscheren, wohin Ihr wollt, meinetwegen könnt Ihr Euch in der alten Kirche
einquartieren. Die schenk ich Euch sogar, mit allen Nattern und Kröten und Mäusen und allem was darinnen ist!“

„Oho!“ meinte der Schneider, „aus dem Hause weisen könnt Ihr mich nicht, ich habe mir die Miete durch die Arbeit verdient!“

„Nichts da“, lachte der Kaufmann höhnisch, das halbe Jahr ihr schon um. Wollt Ihr bleiben, so nehmt die Arbeit.

An das, dass das halbe Jahr schon wieder um war, hatte der Schneider nicht gedacht und erschrak nun nicht wenig. Er wollte schon nachgeben und die Arbeit nehmen, da fiel ihm aber ein, was die Maus gesagt hatte, und  deshalb erwidertete er
gleichgültig:

„Nun, wenn es schon nicht anders ist, so ziehe ich halt in die Kirche.“

„Nur zu!“ rief der Kaufmann, „meinen Segen habt Ihr dazu. Dort könnt Ihr den Mäusen Hosen und den Schlangen Westen machen, zu besserer Arbeit taugt Ihr  ohnehin nicht! Und macht nun,
dass Ihr mir aus dem Gesicht kommt!“

Traurig zog der Schneider ab, und alle, die im Laden waren, lachten ihm höhnisch nach.

Als er zu Hause angekommen war und sich nachdenklich an den Tisch setzte, kam die Maus herbei und fragte: „Nun, wie ist es dir ergangen?“

Der Schneider sah sie vorwurfsvoll an und sagte: „Du hast mir was Schönes angerichtet, dass du mir das Loch in den Ärmel nagtest!“
Und darauf erzählte er, wie es ihm ergangen und was der Kaufmann gesagt hatte. Als er erzählt hatte, dass ihm der Kaufmann die Kirche geschenkt habe, rief die Maus:
„Ist das wirklich wahr?“

„Nun ja“, erwiderte der Schneider, es haben es so viele  Leute gehört. „Aber was mache ich mit den paar Steinen?“

Aber die Maus ließ ihn nicht weiter reden, sie sprang wie toll im Zimmer herum, lief dann dem Schneider an dem ausgestreckten Bein empor auf den Rock und an dem hinauf  bis zu seinem Ohr,
biss übermütig mit den spitzen Zähnchen hinein, dass der Schneider laut aufschrie und rief dann, indem sie wieder auf den Boden hinab sprang:
„Hurra! Nun bist du ein reicher Mann! Nimm nur schnell Haue und Spaten und komme mit!“

Der tat es und die Maus lief vor ihm her bis zur Kirchenruine. Dort blieb sie bei einem Loch, das von einem Haselbusch halb verdeckt war, stehen und sagte: „ So, da grabe hinein, und du wirst finden, was du brauchst.“

Der Schneider grub und nach einer Weile kam er auf eine große Kiste, die ganz mit kostbaren Kirchengeräten, goldenen Kelchen,
edelsteinbesetzten Monstranzen, silbernen Leuchtern und Kreuzen bis oben gefüllt war.

Da nahm der Schneider den ganzen Schatz, lud ihn auf einen Karren und fuhr mit ihm in die Stadt, wo er soviel dafür bekam, dass er von Stund an ein reicher Mann war.

Als der Kaufmann davon hörte, wollte er den Schatz haben und sagte, die Kirche gehöre ihm.

Aber der Schneider rief die Leute herbei, welche gehört hatten, wie ihm der Kaufmann die Kirche geschenkt hatte, und erwiderte:

„Oh nein, diese Leute da wissen alle, dass Ihr mir die Kirche mit allen Nattern und Kröten und Mäusen und allem was drinnen ist, geschenkt habt.
Darum gehört auch alles mir. Ich habe mir meinen Teil genommen. Damit Ihr aber seht, dass ich nicht geizig bin, schenke ich Euch die Kirche mit allem was noch drinnen ist, wieder zurück.“
Der Kaufmann grub nach, fand aber nichts mehr, als Nattern, Kröten und Mäuse. Der Schneider ging aber hin, kaufte sich ein Haus, fing ein großes Geschäft an und  die kleine
Kirchenmaus nahm er zu sich und pflegte sie.
Und wenn sie ihm nicht davon gelaufen ist, so hat er sie noch.

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